Beim Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Tobias Rathjen (R.) neun Menschen mit Migrationshintergrund, danach seine Mutter und sich selbst. Das Bundeskriminalamt (BKA) stufte die Morde des von paranoiden Wahnvorstellungen geprägten Täters als rechtsextrem und rassistisch motiviert ein. Bis zum fünften Jahrestag des Anschlags war trotz mehrerer Strafanzeigen von Opferangehörigen kein Gerichtsverfahren zu möglichen Behördenfehlern vor und nach der Tat eingeleitet worden.
Der rassistische Terroranschlag von Hanau ist viel zu schnell von den Titelseiten und aus den Schlagzeilen verschwunden. Karneval und Coronavirus waren bald wichtiger als der Versuch, zu verstehen, was am 19. Februar in der hessischen Stadt passiert ist, und der Opfer würdig zu gedenken.
Die Mutter des rechtsextremen Mörders von Hanau war sein letztes Opfer, bevor er sich selbst erschoss. Mittlerweile wird ihr Name, Gabriele Rathjen, häufiger genannt, doch in manchen Aufzählungen der Opfer fehlt sie weiterhin oder wird mit Frau R. abgekürzt.
Den Anschlag als rassistisch zu benennen, ist für die gesellschaftliche Debatte darüber und die politische Reaktion darauf unabdingbar.
Die Namen der bisher bekannten Opfer Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unver, Kaloyan Velkov zu nennen, sie zu kennen (und aussprechen zu können) ist wichtig. Den Anschlag als rassistisch zu benennen, ist für die gesellschaftliche Debatte darüber und die politische Reaktion darauf unabdingbar. Allerdings sollte die Betonung der rassistischen Vernichtungsphantasien nicht so weit gehen, dass die anderen menschenfeindlichen Elemente der Täterideologie vernachlässigt werden. Das sozialdarwinistische Motiv der vom Täter unterstellten mangelnden Leistungsfähigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Seiten seines Pamphlets. Ganze »Volksgruppen« verdienten wegen »Leistungsunterschieden zwischen den Rassen« die Vernichtung. https://jungle.world/artikel/2020/10/das-zehnte-opfer-nicht-vergessen
Von den zehn Opfern hatten neun eine Migrationsgeschichte oder gehörten einer ethnischen Minderheit an.
- Gökhan Gültekin wurde in Hanau geboren, wohin seine aus Ağrı (Türkei) stammenden kurdischen Eltern 1968 gezogen waren. Er hatte einen acht Jahre älteren Bruder; der Vater starb fünf Wochen nach dem Anschlag an Krebs.[3][4] Gökhan Gültekin war gelernter Maurer und hatte kurz vor der Tat ein Speditions- und Hausmeisterunternehmen gegründet. In der Arena Bar, einem der Tatorte, arbeitete er nur noch aushilfsweise.[4] Im Jahr 2006 war Gültekin lebensgefährlich verletzt worden, als ein Linienbus eine Telefonzelle überfuhr, in der er stand. Dass er den Unfall überlebte, sah er als ein Geschenk Gottes.[5] Er starb mit 37 Jahren.
- Sedat Gürbüz wurde in Langen geboren und wuchs mit seinem Bruder in Dietzenbach auf. Gürbüz war der ehemalige Besitzer der Shisha-Bar „Midnight“, einem weiteren Tatort. An jenem Abend wollte er sich in der Bar, die er kurz zuvor verkauft hatte, nur noch von seinen früheren Mitarbeitern verabschieden.[6][7] Er starb mit 29 Jahren.
- Said Nesar Hashemi war Deutsch-Afghane und wuchs mit vier Geschwistern in Hanau auf. Er war ausgebildeter Maschinen- und Anlagenführer.[8] Er starb mit 21 Jahren. Sein 23-jähriger Bruder Said Etris, der in der Arena Bar angeschossen wurde, überlebte das Attentat schwer verletzt.
- Mercedes Kierpacz war eine deutsche Romni. Sie wurde in Offenbach am Main geboren und arbeitete in der Arena Bar, die nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt war.[9] Am Abend des 19. Februar 2020 ging sie kurz vor dem Täter in die Bar, um eine Pizza für ihre zwei Kinder abzuholen. Der Täter betrat die Bar durch denselben Eingang, sah sie und erschoss sie sofort.[10] Sie starb mit 35 Jahren und hinterließ einen damals 17-jährigen Sohn und eine dreijährige Tochter.[8]
- Hamza Kurtović wurde wie sein Vater und seine drei Geschwister in Deutschland geboren. Seine Vorfahren waren Bosniaken aus Prijedor, damals Jugoslawien.[11] Er hatte gerade eine Ausbildung als Fachlagerist abgeschlossen und wohnte in der Nähe des Täters. Er wurde in der Arena Bar erschossen, als er dort auf seinen Freund wartete.[8] Er wurde 22 Jahre alt.
Am Abend des 19. Februar wurde er Zeuge der Schüsse am ersten Tatort. Er versuchte, den Wagen des Täters mit seinem Pkw zu blockieren, fuhr dann hinter ihm her und rief unterwegs mehrmals vergeblich den Polizeinotruf an. Am Kurt-Schumacher-Platz erschoss der Täter den 22-jährigen Păun, der in seinem Auto saß. Später wurde dort ein Kreuz für Păun aufgestellt.[14] Am 19. April 2021 wurde er posthum mit der Hessischen Medaille für Zivilcourage geehrt.[15]
Seine Eltern zogen zurück nach Rumänien. Die Straße von ihrem Haus zu dem Friedhof, wo Vili Viorel Păun begraben ist, wurde nach ihm benannt.[16]
- Fatih Saraçoğlu war 2017 aus Regensburg nach Maintal gezogen. Seine Familie stammt aus İskilip (Türkei). Er arbeitete selbständig als Schädlingsbekämpfer und plante, mit seiner Firma bundesweit tätig zu werden. Saraçoğlu wurde vor der Shisha-Bar „Midnight“ von vier Kugeln des Täters getroffen und starb auf offener Straße.[7] Er wurde 34 Jahre alt.[3]
- Ferhat Unvar wurde als Kind kurdischer Eltern in Deutschland geboren und hatte drei Geschwister. Er hatte gerade eine Ausbildung zum Installateur abgeschlossen und traf sich oft mit Freunden in der Arena Bar.[8][3] Seine Mutter Serpil Temiz Unvar gründete am 14. November 2020, seinem 24. Geburtstag, die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“.[17]
- Kaloyan Velkov war ein Rom aus Bulgarien[12] und lebte seit 2018 in Deutschland.[8] Er war Fernfahrer und der Wirt der Bar „La Votre“, dem ersten Tatort.[3] Er starb mit 33 Jahren und hinterließ einen achtjährigen Sohn.[18]
- Gabriele Rathjen, die Mutter des Täters, war nach Angaben von Nachbarn bettlägerig und erhielt mehrmals täglich Besuch von einem Pflegedienst.[19] Sie starb mit 72 Jahren.
Nach LKA-Angaben erlitten mindestens fünf weitere Menschen Schussverletzungen,[20] darunter Said Nesar Hashemis Bruder Said Etris.[21] Muhammed B. wurde in der Arena Bar die rechte Schulter durchschossen; er fiel auf einen tödlich getroffenen Freund und überlebte nach einer Notoperation.[22]
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