Der Mythos der Überbevölkerung
In Zeiten der Dauerkrise ist die Klage vor "zu vielen Menschen" eine ebenso beliebte wie verklärende Strategie, um von den wahren Gründen für Armut, Hunger und Naturzerstörung abzulenken
Die Furcht vor "zu vielen" Menschen gibt es schon innerhalb der Grenzen Europas: Im Mai 2013 veröffentlichte das Statistische Bundesamt neue Zahlen über die Zuwanderung nach Deutschland: Im Jahr 2012 kamen aus dem krisengebeutelten Spanien 45 Prozent mehr Personen als noch 2011; aus Griechenland und Portugal kamen jeweils 43 Prozent mehr Menschen und aus Italien 40 Prozent mehr. Schon jetzt werden von Medien und Politikern Ängste geschürt, dass Deutschland überrannt wird. Ab dem 1. Januar 2014 kommt EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit zu, das rechtskonservative bürgerliche Lager sieht vermeintlich arbeitsscheue Roma und Sinti nach Deutschland pilgern. (Was nicht nur menschenfeindlich ist, sondern auch den Fakten widerspricht: Die Arbeitslosenquote ist bei hier lebenden Roma und Sinti deutlich unter dem Bundesdurchschnitt.) Der rechtspopulistische Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied und waschechter Sozialdarwinist, warnte bekanntermaßen davor, dass Deutschland sich "abschaffe".
In der Schweiz, in der man bereits Minarette als Bedrohung des Landfriedens ansieht, treibt die Angst vor Zuwanderung ganz andere Blüten: Die rechtskonservative Vereinigung "Ecopop" hat kürzlich die Volksinitiative "Stopp der Überbevölkerung - zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen" eingebracht; am 4. Dezember 2012 ist diese Initiative mit 119.816 gültigen Stimmen zustande gekommen und muss nun vom Parlament verhandelt werden.
Die Chancen für Ecopop stehen gut, ihre kruden Forderungen durchzuboxen. Ecopop will zentrale Stellen der Bundesverfassung ändern. So soll Artikel 73 ab sofort festhalten, dass durch eine Begrenzung der Einwohnerzahl "die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sichergestellt sind", indem die "Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen" soll. Infolgedessen müsse die Entwicklungsarbeit des Bundes verstärkt "Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung" fördern. Auf der Homepage der Initiative liest man dann etwas mehr zu den Hintergründen der ökofaschistisch anmutenden Vorhaben:
Weil die ökologischen Kapazitäten und die Ressourcen der Erde unabhängig von Staatsgrenzen beschränkt sind, und angesichts der zunehmenden internationalen Migration, soll diese eidgenössische Volksinitiative den Bevölkerungsdruck sowohl national als auch international reduzieren helfen.
"Normalmaß an Elend"
Was da etwas bürokratisch-formal daherkommt, ist sowohl inhuman als auch verklärend. Im Kern dieser These steckt der Wahn eines Thomas Robert Malthus, der 1798 in seinem Essay on the Principle of Population vor einer Überbevölkerung warnte: Der Pfarrer Malthus behauptete, dass die Nahrungsmittelproduktion arithmetisch wachse, während die Bevölkerung geometrisch zunehme. Mit anderen Worten: Das Nahrungsangebot vermehre sich nach dem Muster 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 …, während sich die Menschen nach dem Muster 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128 …vermehrten.
Soweit die Malthussche Theorie, die jeglicher Wissenschaftlichkeit und Faktenlage widerspricht. Malthus verlangte von den Armen und Ärmsten sexuelle Enthaltsamkeit, von der Politik forderte er eine Abschaffung der ohnehin bescheidenen Armenfürsorge. Der nicht ganz so barmherzige Pfarrer freute sich sogar über Kriege, Hungersnöte und Epidemien, da sie, so Malthus wörtlich, "vernichten, was überflüssig ist". Ein "Normalmaß an Elend" sei eben hinzunehmen und notwendig, Pech hätten all jene, "die in der großen Lebenslotterie eine Niete gezogen haben."
Die Kernthese des Malthusianismus hat sich bis heute in die Köpfe eingenistet: Angeblich minderwertige, weil arme Menschen bedrohen den Luxus der Wohlhabenden. Die soziale Frage von Armut und Reichtum wird kurzerhand biologisiert:
Malthus verlagert also das Problem aus der Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse heraus, um die kapitalistisch erzeugte künstliche Armut, ja sogar "Überflüssigkeit" von Menschen auf die Ebene von Karnickeln oder Bibern zu bringen, die sich unter bestimmten Bedingungen "zu stark vermehren".Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus
Platz für eine Billion Menschen?
Wann immer bestimmte symbolische Zahlen der Weltbevölkerung überschritten werden, machen diese Zahlen ihre Runde in den Medien. Dort liest man dann von einer "Bevölkerungsexplosion" oder einer "Bevölkerungsbombe" - im Jahr 1968 veröffentlichte der Schmetterlingsforscher Paul R. Ehrlich ein Buch mit gleichnamigen Titel und behauptete, dass auf der Erde nur Platz für rund 1,2 Milliarden Menschen sei. Demgegenüber steht ein anderer Extremwert des Systemanalysten Cesare Marcheti, der 1979 in seinem Artikel "1012 - A Check on Earth Carrying Capacity for Man" davon ausging, dass auf der Erde Platz für rund 1000 Milliarden Menschen sei.
Derzeit leben auf der Erde rund 7,14 Milliarden Menschen. Die Zuwachsrate beträgt nach Weltbevölkerung.de pro Jahr 82.947.000 Menschen, ein Wert, der knapp über der Gesamtbevölkerungszahl Deutschlands liegt. Umgerechnet und abzüglich der Sterbefälle beträgt der Zuwachs pro Tag 227.252 Menschen, was 2,6 Menschen pro Sekunde entspricht.
Auf der gleichen Internetseite liest man, dass jährlich etwa 75.000.000 ungewollte Schwangerschaften auftreten, die meisten davon in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, also den Trikont-Staaten. Natürlich nimmt die Bevölkerung in diesen Ländern stärker zu als in den westlichen Industrienationen. Die Verteilung von Kondomen und anderen Verhütungsmitteln wäre sicherlich hilfreich - wird jedoch massiv blockiert von der Kirche, die nur noch in diesen Ländern steigende Mitgliedszahlen hat, weil es in ihren Hallen etwas Brot gibt.
Das große ABER lautet jedoch, dass Präservative und Co abermals eine biologische Lösung für ein an sich soziales Problem sein sollen: Die Familien in diesen Ländern sind auf zahlreiche Kinder schlichtweg angewiesen, weil sie ansonsten keine Altersvorsorge haben. Wer keine Kinder hat und alt und schwach wird, kann sich in kein Sozialsystem retten - er braucht Kinder, die ihn versorgen, oder er stirbt. Will er oder sie in die reicheren Länder des Nordens, um zu arbeiten oder um sich vor politischer Verfolgung zu retten, landet er im Stacheldraht der USA oder EU. Die europäische Grenzpolizei Frontex tut alles dafür, dass jährlich tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, damit sie auch ja nicht unseren Wohlstand anzutasten. Auf der Internetseite von Frontex wird die "Invasion" exakt auf einer Landkarte dokumentiert; die entsprechende Untersuchung von Frontex trägt den vielsagenden Titel "Frontex Annual Risk Analysis".
Ein "Risiko" seien sowohl Überbevölkerung als auch Zuwanderung. Angesichts der schweizerischen Vorhaben übt die in Genf forschende Anthropologin Shalini Randeria deutliche Kritik an der westlichen Doppelmoral:
Wenn eine Frau aus Kamerun mehrere Kinder zur Welt bringt, trägt sie angeblich zur globalen Überbevölkerung bei, wenn der Schweizer aber zwei Autos kauft, kurbelt er das Wirtschaftswachstum an. Man kann die Frage der vermeintlichen Überbevölkerung nicht vom Ressourcenverbrauch trennen. Die Einwohner der Stadt New York verbrauchen an einem Tag mehr Energie als der gesamte afrikanische Kontinent. […] Überzählig sind immer die Anderen: die Armen, die Ausländer, die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften. […] Es geht nie nur um die Zahlen, sondern stets um die Frage, wer sich vermehren darf und wer nicht.
Das Problem ist nicht die Anzahl der Menschen, sondern die Verteilung des Reichtums
Wenn weltweit eine Milliarde Menschen hungert und fast die Hälfte aller weltweit lebenden Menschen mit 1 US-Dollar am Tag (über-)leben muss, dann lassen sich die Millionen Toten bequem rechtfertigen, indem man das Problem auf die "Überbevölkerung" schiebt. In den bevölkerungsreichen Trikont-Staaten werden an 16-Stunden-Tagen in hochgiftigen Fabrikhallen unsere Smartphones, Spielsachen und Klamotten hergestellt - wie die Katastrophe in Bangladesch zeigt, können die Sklavenarbeiter froh sein, wenn sie vergiftet, aber lebend aus diesen Gefängnishallen rauskommen. Aufgrund dieser Verhältnisse ist es gleichgültig, ob nun 1 oder 10 Milliarden Menschen in diesen Ländern leben - sie werden so oder so vom Westen ausgebeutet und müssen hungern.
Angesichts der enormen Produktivität in den Industrienationen könnte man ohne weiteres 12 Milliarden Menschen ernähren, wie der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, betont. Wenn täglich über 57.000 Menschen an Hunger sterben, in den Industrienationen aber der unerträgliche Überfluss herrscht, dann sind nicht die Menschen, sondern unsere Unmenschlichkeit das Problem.
Schuld ist aber nie der sakrosankte Kapitalismus als Ursache der Zerstörung von Menschenleben und Natur - schuld seien die Menschen selbst aufgrund ihrer bloßen (zu zahlreichen) Existenz. So jedenfalls wollen es uns viele Medien und Politiker weismachen. Das ist nicht nur bequem und realitätsfern, es ist aktiv menschenverachtend, wie auch die Publizistin und Sozialforscherin Jutta Ditfurth festhält:
Das Bild von der zu kleinen Erde, auf der sich die Armen hemmungslos fortpflanzen, während die Lebensmittelproduktion stagniere, ist ein prominentes Klischee der Inhumanität. […] Statt zu fragen: ‚Wie viele Menschen erträgt die Erde?‘, müsste es lauten: Wie viel Kapitalismus ertragen der Mensch und die Natur noch? […] Die üblichen Berichte über die Entwicklung der Weltbevölkerung sind meist mit Bildern eng gedrängter dunkelhäutiger Menschenmassen illustriert, selten mit Bildern Hellhäutiger im Feierabendverkehr, beim Schlussverkauf oder in Autobahnstaus zu Ferienbeginn. […] Deutschland ist dichter besiedelt (231 Einwohner pro Quadratkilometer) als Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas (152 Einwohner pro km2). […] "Hat schon jemals irgendwer ernsthaft die Überbevölkerung Monacos (16.620 Einwohner pro km2) gegeißelt?
Jutta Ditfurth: Worum es geht
Es ist schlichtweg ein gezielt verbreiteter Mythos, dass Armut und Umweltprobleme von der sogenannten Bevölkerungsexplosion ausgehen. Jeder Medienbericht, jede Politikerrede und jede Volksinitiative, die das propagieren, wollen lediglich rassistische Ängste schüren und die Grenzen dichtmachen - dichter als sie es ohnehin schon sind. Außerdem dienen diese Behauptungen als Beruhigungsmittel dafür, dass nicht etwa unsere massive inhumane Ausbeutung, sondern die simple biologische Vermehrungstatsache der Grund allen Elends sei.
Fakt ist aber: Ein durchschnittlicher US-Amerikaner verbraucht 32 Mal so viele Ressourcen wie ein durchschnittlicher Kenianer - und in den USA leben knapp 315 Millionen Menschen. In linken wie bürgerlichen oder rechten Medien liest man nur noch das Zauberwörtchen "Wachstum, Wachstum, Wachstum". Wachstum wohin denn bitte?
Die westlichen Länder wachsen sich kaputt, während andernorts nur das Elend wächst. Wenn in milliardenschweren Schwellenländern wie Indien oder China jeder Bewohner ein Auto, ein Haus, ein Smartphone und ein Steak haben möchte, wer vermag ihm dann diesen Wunsch abzustreiten, solange "wir" dieses Übermaß vorleben und sonntags unseren Zweitwagen waschen?
Ein hochgradig übertriebenes Konsumniveau von ein paar Millionen reichen Menschen einerseits und ein hochgradig inhumanes Elend von Milliarden Menschen andererseits - das kann nur in einer humanen Katastrophe münden. Wir wachsen solange, bis wir buchstäblich platzen - Immobilienblasen und Aktienkurse eingeschlossen. Unser Heißhunger nach Konsum und übertriebenem Luxus lässt andere bluten. Die WTO, der IWF und Heerscharen von Soldaten sorgen dafür, dass das so bleibt. Schuldig daran ist kein Mensch, kein einziger - schuldig ist allein die ungleiche globale Verteilung von Geld, Land und Nahrung. (Patrick Spät)
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